Am selben Abend schaut der Skinhead Karl Markowitz in die Runde. Etwa zwei Dutzend Nazis sind anwesend. Sie sitzen im Hinterzimmer einer Kneipe in Biebrich. Vor ihnen stehen Biergläser und Brezeln mit Spundekäs.
Markowitz ist nicht gut gelaunt. Er stützt sich schwer auf den Tisch. Die Runen auf seinen Unterarmen glänzen schweißnass.
„Hat jemand irgendeine Ahnung, wer das war?“, fragt er in die Runde. Alle Anwesenden wissen, dass er von den Plakaten in der Stadt spricht.
„Die Antifa“, sagt einer, der links von ihm sitzt. Der Skinhead dreht seinen Kopf zu ihm.
„Oh, haben wir heute einen ganz Schlauen unter uns?“, brüllt er. „Du willst bestimmt mal studieren, was? Die Antifa! Was für eine Überraschung! Haste das selber rausbekommen?“
Er macht eine Pause.
„Du Schwachkopf! Natürlich war das die Antifa. Wer denn sonst? Die Anonymen Alkoholiker?“
Der Skinhead atmet tief durch. Er fixiert einen nach dem anderen. Keiner erwidert den Blick, sondern schauen betreten in ihre Biergläser.
„Wir brauchen Namen!“
„Wir müssen was tun“, sagt ein etwa siebzehnjähriger Junge, der eher an einen Heavy-Metal-Freak erinnert als an einen Neonazi. „Ich habe wegen der verdammten Plakate meine Lehrstelle verloren.“
„Alfred und ich mussten zum Direktor“, berichtet Bernd Habelmann. „Der hat uns ganz schön die Hölle heiß gemacht.“
„Das ist alles eine Riesenscheiße!“, brüllt Markowitz. „Woher haben diese Schwuchteln die ganzen Infos? Seid ihr jetzt alle bei Facebook oder was?“
Wieder studieren einige betreten ihr Bier. Peter Müller sitzt abseits im Hintergrund. „Die recherchieren. Systematisch. Das sind Puzzlespieler. Wir dürfen uns doch von denen nicht ins Bockshorn jagen lassen“, sagt er ganz ruhig. Er spricht bewusst sehr leise. Wer ihn verstehen will, muss still sein. Das hat er mal auf einer Schulung gelernt. Um einen Flüsternden zu verstehen, müssen alle aufmerksam jedem Wort lauschen. Es funktioniert, es ist mucksmäuschenstill im Hinterzimmer.
„Aber sind Puzzlespieler Weicheier.“
„Genau!“, ruft Markowitz und schlägt auf den Tisch. Müller straft ihn mit einem wütenden Blick. Der Skinhead schweigt sofort. Fast lautlos spricht Müller weiter.
„Am Mittwoch werden wir denen zeigen, wo der Hammer hängt. Karl, sind alle Anwesenden eingeweiht? Sind hier nur verlässliche Männer im Raum?“
„Na klar Chef!“, erwidert der dicke Fleischberg begeistert. „Alle hier sind kampferprobt. Keine Luschen, keine Angsthasen. Alle mit Erfahrung im Straßenkampf.“
Geraune und zustimmendes Nicken.
„Gut!“ Peters Stimme ist ein Hauchen. Er will die Dramaturgie seiner Worte langsam steigern. „Ihr kennt den Auftrag. Windelweich, aber nicht tot.“
Pause. Dann etwas lauter: „Es soll eine Warnung sein, keine Massenschlachtung.“
Dann erhebt er sich. Er stützt die Arme auf den Tisch. Einen nach dem anderen mustert er. Dann spricht er mit fester Stimme: „Die Botschaft lautet: Wer sich uns in den Weg stellt, bezahlt dafür.“
„Genau“, hallt es ihm entgegen. „Wir sind die Elite.“ Markowitz ist aufgesprungen. Mit seinen zwei Metern und 120 Kilo Lebendgewicht ist er eine kolossale Erscheinung.
Müller flüstert nun wieder: „Doch die Schüler sollen nicht dabei umkommen. Noch nicht. Sie sind zu unwichtig, zu klein. Und die Zeit ist für so etwas noch nicht reif. Außerdem haben wir dann die Bullen am Hals. Wir wollen durch dieses Exempel die abschrecken die meinen, unseren Aufmarsch behindern zu müssen. Die sollen merken, dass wir nicht spaßen.“
Markowitz sitzt wieder.
„Keine Messer, Stichwaffen, Macheten und Knarren oder so was. Klar?“, fragt Peter Müller.
„Klar“, schallt es wie aus einem Mund.
Im Gastraum zuckt die italienische Bedienung zusammen. Sie schaut ihren Chef an, der hebt nur schwach die Schultern. „Sie zahlen, also dürfen sie rein“, sagt er. Die Bedienung schüttelt den Kopf. „Feigling“, murmelt sie vor sich hin, „bei nächster Gelegenheit stechen die dir ein Messer in deinen slowenischen Bauch.“
Im Hinterzimmer schreitet Peter Müller auf und ab. Er spricht jetzt besonders deutlich. Seine hitlerimitierenden Gesten hat er stundenlang vor dem Kleiderspiegel seiner Mutter geübt. Heute trägt der Hitler-Hipster grobe Jeans, hellbraune Stiefel und ein kariertes Hemd unter den Hosenträgern.
„Ihr seid alle Opfer der miesen Machenschaften linker Volksfeinde. Ihr habt unter ihrem Tun in den letzten Tagen gelitten, seid von eurer Umwelt gequält worden. Und warum? Weil ihr eine eigene Meinung habt. Eine Meinung, die euch zu Außenseitern machen soll, weil die Politiker, die Volksverräter an der Regierung, die Marionetten Israels, die Wahrheit unterdrücken und verleugnen. Doch wir sind die, die aufgestanden sind, um die Wahrheit zu sagen. Wir glauben nicht an die Märchen der Lügenpresse. Wir glauben an das deutsche Volk!!!“
Die Männer klatschen Beifall.
Müller hebt die Stimme. „Ihr seid die Zukunft unseres deutschen Vaterlandes. Die zionistische Regierung betreibt den Bevölkerungsaustausch. Wir werden unsere heilige Erde, blutgetränkt von den Opfern unserer Väter und Vorväter, von den Tyrannenstiefeln der fremden Besatzer und den dunkelhäutigen Untermenschen befreien. Die haben es nur auf unser Geld und unsere Frauen abgesehen. Wir aber werden das Pack aus Deutschland rauswerfen!!“
Zustimmendes Stiefeltrampeln.
Müllers Zeigefinger schraubt sich theatralisch in die Luft. „Ihr seid die Elite. Die Retter. Die Mutigsten. Die Tapfersten. Ihr werft euch heldenhaft der anbrandenden Flut von Ausländern und Asylanten entgegen, um sie ein für alle Mal zurückzuwerfen in die stinkenden Sümpfe, aus denen sie hervorgekrochen sind. Wenn wir zusammenstehen, wird kein jüdischer, slawischer, islamischer, asiatischer oder negrider Untermensch uns Deutschen je wieder befehlen, was wir zu tun und zu lassen haben. Erst dann wird der Tag der Freiheit kommen. Und mit ihm die Rache. Und ich verspreche euch: Bald ist es so weit! Das Reich ist nicht mehr fern. Heil euch, meine Mannen!“
„Heil Deutschland!“ Sieg Heil!, hallt es zurück. Einige sind aufgestanden und haben den rechten Arm zum Hitlergruß erhoben.
Hinter dem Tresen zuckt die Bedienung zusammen. Wie in Italien, denkt sie.
Als es wieder ruhiger ist, spricht Müller weiter. Seine Daumen sind unter den Hosenträgern eingehakt. „Setzt euch, vor uns liegt noch viel Arbeit.“ Er lächelt zufrieden. „Hier liegen noch tausend Plakate. Frisch aus der Druckerei. Mobilisierung für den Aufmarsch. Die müssen heute noch geklebt werden. Leim und Eimer gibt euch Karl. Heute Nacht beherrschen unsere Plakate die Stadt und nicht die der Zecken! Auf geht’s. Die Lokalrechnung geht auf mich.“
Die Nazis stehen auf und holen sich Quaste, Leim und Plakate ab. Sie wirken nicht so, als ob sie Lust auf diesen Job hätten, aber Befehl ist Befehl.
„Ach ja, noch etwas. Wir brauchen Geld. Jeder der sich Plakate nimmt, soll auch einen Schein da lassen. Und kommt mir nicht mit einem Fünfer!“
Karl stellt ein leeres Brezelkörbchen hin. Brav legen die Kameraden Geld hinein. Murrend, aber unterwürfig. Was Peter sagt, wird gemacht.
Der schmunzelt in sich hinein. Er weiß, dass niemand von ihnen gerne Plakate klebt und dafür auch noch Geld zahlt. Er selber hat noch nie den Leimpinsel geschwungen.
Ich bin ja auch der Boss. Gottseidank! Führer befiehl, wir folgen. Es funktioniert immer noch. Befehle geben ist doch die nettere Variante als Befehle entgegennehmen. Schon immer gewesen. Drohung und Gehorsam, so funktioniert nun mal die Welt. Manchen führen, mache folgen. Es gibt eben welche, die sagen, wo es lang geht, und welche, die dann marschieren müssen. Oder plakatieren gehen.
Peter Müller nimmt seine Lederjacke und läuft nach Hause. Er wird ein warmes Bad nehmen und früh schlafen gehen.
Der dicke Karl geht ebenfalls nicht plakatieren. Er macht Kassensturz. Die Kameraden haben nur wenig Geld dagelassen. 300 Euro liegen im Brezelkorb.
Damit kann man das Tattoo nicht vernünftig überstechen lassen. Ich muss anderswo Geld besorgen. Der verräterische Schädel muss endlich von Maiks Wade verschwinden!
Als er die Lokalrechnung bezahlt hat, wählt er Schellenborns Nummer.
„Hallo Karl, was ist los so spät? Ist die Versammlung schon vorbei?“
„Ja, es gibt auch nichts wirklich Neues. Die Jungs sind los, plakatieren und den Antifa-Scheiß überkleben.“
„Ja, hattest du mir ja schon berichtet, habe ich weitergegeben. Gute Arbeit.“
„Wissen die Bullen Bescheid?“
„Na klar, wir helfen, wo wir können.“
„Keiner von uns wird verhaftet?“
„Keiner!“
„Danke. Aber ich brauche noch einen Gefallen.“
„Ich zahl‘ dir nichts extra. So wichtig ist die Info nicht, dass deine Männer plakatieren gehen. Zumal ich schon die Plakate bezahlt habe.“
„Ja, ich weiß. Nee, wir müssen ein Problem lösen. Und dazu brauche ich Geld.“
„Was für ein Problem?“
„Kann ich nicht sagen.“
„Dann kann ich auch nichts zahlen. Mach‘s gut, Karl.“
Schellenborn will auflegen.
„Nein Chef, Halt!“
„Ja.“
„Es ist wegen dem toten Neger.“
„Ja.“
„Der Täter hatte doch ein Tattoo.“
„Und?“
„Das muss er sich überstechen lassen.“
„Und das soll ich zahlen?“
„Ja.“
„Na, du bist ja lustig. Was soll ich denn dann auf die Quittung schreiben? ‚Mordvertuschungsservice für Neonazis‘?“
„Keine Ahnung.“
„Wieviel kostet das?“
„Etwa 600.“
„Was lieferst du mir dafür?“
„Den Namen des Täters.“
„Den brauche ich ja sowieso.“
„Für die Quittung?“
Oh Mann, dieser Fettsack ist echt doof! Schellenborn rollt innerlich die Augen.
„Nein, natürlich nicht. Einfach so, das erwarte ich.“
„Maik Jankowsky.“
„Das langt nicht für 600 Euro.“
„Was denn noch? Sie bekommen doch schon alles von mir.“
„Weiß ich ja nicht … Ich will die Namen aller an der Aktion beteiligten.“
„Das kann ich nicht machen.“
„Doch“, sagt der Verfassungsschützer. „Das wirst du machen. Du bekommst dein monatliches Geld und willst jetzt 600 zusätzlich. Da müssen ein paar Namen schon drin sein.“
Karl gibt sich geschlagen.
„Ich mache Ihnen eine Liste.“
„Alles klar. Morgen tauschen wir Liste gegen Geld. Treffpunkt wie immer. 17 Uhr?“
„Ja!“
Karl legt auf und denkt nach.
Wenn ich die Kohle habe, muss Maik sofort ins Studio. Er soll sich schon einmal ein Motiv überlegen. Es muss größer sein als der Schädel. Und auch gut aussehen. Allein die Motivfindung wird dauern. Maik ist nicht der schnellste. Morgen besuche ich ihn.